Title: Über Angst und Bildung, Enttäuschung und Gerechtigkeit, Protest und Spaltung in Sachsen / Deutschland
Format: Documentary / 4k video InstallAtion . stereo . color
Length: 546 Minutes
year: 2016 – ongoing
contry of production: germany
Producer /Director: Mario Pfeifer
Co-Producer: KOW
CoMmissioner: GfZK Galerie für zeitgenössische kunst, leipzig
Funder: Kulturstiftung des Freistaates Sachsen
Research and PRODUCTION Assistance BY SIMÓN QUIÑONES
Sound Design & mastering by Thomas Wallmann / Neuton
Mario Pfeifer conducted interviews with nine people, giving them the space to speak. Each is asked the same questions, each is allotted the same media space and time. The speakers remain anonymous, their functions unspecified, but the viewer quickly gathers: most of them are from Saxony, they helped found Pegida, they are a trade unionist or the mayor of a small town, a concerned businessman or a critic of Islam, a psychoanalyst or a conflict researcher. All of them earnest people who share their understandable thoughts on German society today with the camera, telling stories of their dis- enchantments and insights, their involvements and their hopes for society. No agitation, no populism, and instead people who speak intently and calmly.
A web documentation with the full length video, press and exhibition history can be found here.
#ueberangstundbildung
Leider ist das alles nicht so einfach. Rechts-, Mitte-, Links-Populismus, post-faktisches Zeitalter, gespaltene und manipulierte Gesellschaften – das fühlt sich an wie eine apokalyptische Abwärtsspirale, doch apokalyptische Gefühlslagen helfen nicht. Spaltung hilft nicht. Fakt ist: Was heute manche erschüttert, macht andere heiter und mutig. Wo aufkommende Regierungsformen bei den einen Fluchtinstinkte wecken, sehen sich andere endlich repräsentiert. Wo elaborierter Kritik der Sauerstoff ausgeht, kommen ungehörte Stimmen zu neuem Volumen. Doch verarscht fühlen sich am Ende vielleicht alle. Rechtsruck? Linker Widerstand? Rationalität der Mitte? Verfangen in alten Politik- und Glaubenssystemen, zünden Leute quer durch die mentalen Spektren Konfliktlinien im Gemeinsinn an, die antagonistische Dämonen beschwören.
Mario Pfeifer ist einen anderen Weg gegangen. Er hat neun Personen in Interviews den Raum gegeben zu sprechen. Jeder bekommt die gleichen Fragen gestellt, jeder hat denselben medialen Raum und die gleiche Zeit. Die Personen bleiben anonym, ihre Funktionen werden nicht angegeben, doch schnell wird klar: Die da sprechen, kommen weitgehend aus Sachsen, haben Pegida mitbegründet, sind Gewerkschaftler oder Bürgermeisterin einer Kleinstadt, besorgter Unternehmer oder Islamkritikerin, Psychoanalytiker oder Konfliktforscher. Alles ernsthafte Menschen, die der Kamera ihre nachvollziehbaren Gedanken über die deutsche Gegenwartsgesellschaft mitteilen, Erzählungen über ihre Enttäuschungen und Einsichten, über ihr Engagement und ihre sozialen Hoffnungen. Keine Agitation, kein Populismus, stattdessen Menschen, die konzentriert und in Ruhe reden.
Wie man das findet, was da gesagt wird? Zeigt sich beim Zuhören. Die politische Meinung – nicht immer leicht – ist eine Eigenleistung der Aufmerksamkeit. Betrachten heißt Mitdenken. Neun Stunden lang, face to face. Keine Like-Buttons, keine Twitter-Abkürzung für Ausführungen, die ihre Zeit brauchen, kein schneller Ein- und Ausstieg im Zapping durch (un-)sympathische Weltbilder und Meinungsvorlagen. Mario Pfeifer schafft einen demokratischen Raum aus der Zeit unverkürzter Rede und dem Nacheinander von Perspektiven, die sich hier nicht so einfach polarisieren lassen. Sein Film ist ein Beitrag zur politischen Bildung und Meinungsfindung angesichts sich verschärfender Sprachlosigkeit und Abschottung in einem Moment, da Realitätsbehauptungen brutaler und Dialoge immer irrationaler werden.
Pfeifers Projekt scheint Konsequenzen aus der Beobachtung zu ziehen, dass die Bestrebungen linker Politik und künstlerischer Kritik augenscheinlich immer weniger solidarische Landgewinne zu vermelden haben und schlimmstenfalls gesellschaftliche Aufspaltungsprozesse beschleunigen statt bremsen. Weil sie jenseits der eigenen Lebens- und Glaubensinseln wenig wahr- und ernst nehmen? Weil sie Offenheit und Meinungspluralität behaupten, aber nicht ausbuchstabieren? Weil wir verlernt haben, dass ein Gemeinwesen sich selber zuhören muss, um das ganze Ausmaß seiner inneren Differenzen zu verarbeiten und seine möglichen Brüche zu verstehen?
"Über Angst und Bildung, Enttäuschung und Gerechtigkeit, Protest und Spaltung in Sachsen / Deutschland" ist im Auftrag von Kirsa Geiser für Mario Pfeifers Einzelausstellung in der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig entstanden, die am 8. Januar zu Ende geht. Bei KOW zeigen wir Pfeifers Film für unbestimmte Zeit. Das vollständige Filmmaterial findet sich außerdem HIER. – Alexander Koch